Freitag, 19. Juni 2020
Warum fällt es uns so schwer, andere Menschen so Sein zu lassen wie sie sind?
Wir kennen es alle: unser großes Bedürfnis, an anderen Menschen herum zu mäkeln und sie verbessern oder verändern zu wollen. Warum ist dies bloß so? Irgendwo muss es dafür doch ein Ursache, einen plausiblen, nachvollziehbaren Grund geben. – Und den gibt es auch …

Einst wurden wir als Kinder geboren. Alle Babys dieser Welt sind in ihren ersten Lebenstagen, Wochen und Monaten existenziell auf die Fürsorge ihrer Eltern angewiesen. Als Babys brauchen wir unsere Eltern. Wir sind von ihnen abhängig. Solange wir Baby sind, ist diese komplette, vollständige Abhängigkeit auch völlig ok. Die gleiche Abhängigkeit heute als Erwachsener würde etwas befremdlich erscheinen. Und zwischen diesen Polen spannt sich das Spannungs- und Erfahrungsfeld unseres Daseins sowie die Antwort auf die Frage auf: Warum fällt es uns so schwer, andere Menschen so Sein zu lassen wie sie sind?

Unser Start in diese Welt

Als Neugeborenes und als Baby sind wir vollkommen unbewusst. Wir wissen überhaupt noch nicht, dass es uns überhaupt gibt. Wir haben (noch) kein Selbstbewusstsein. Wir leben in einem paradiesischen Zustand des rundum versorgt Werdens, ohne hierfür auch nur das Geringste tun müssen. Es genügt, wenn wir schreien, dann kümmern sich die Erwachsenen schon um uns und schauen was anliegt: Windel wechseln, stillen, das Kissen oder den Strampelanzug zurechtrücken, das Baby liebevoll auf den Arm nehmen.

Diese Lebensphase zeichnet sich aus durch maximale Abhängigkeit und zugleich minimale Kommunikations-kompetenzen. Dies ist eine so dermaßen ungünstige Mischung, wie wir sie uns als Erwachsene niemals vorstellen oder gar wünschen würden (und doch schlittern manche Menschen unbewusst immer wieder in genau dieses Muster hinein).

Abhängigkeit versus Kommunikationskompetenz

Im Laufe unserer weiteren Entwicklung verändert sich das Verhältnis von Abhängigkeit und Kommunikationskompetenz: Die Abhängigkeit nimmt ab und unsere Kommunikationskompetenz nimmt zu. Ein Minimum an Abhängigkeit sowie ein Maximum an Kommunikationskompetenz erleben wir in der Zeit unseres Erwachseneins. Doch so bleibt es nicht unser Leben lang, denn dieses Verhältnis verändert sich noch wieder weiter, wenn wir schließlich älter werden. In unserem letzten Lebensabschnitt nimmt unsere Abhängigkeit wieder zu und unsere Kommunikationskompetenz nimmt möglicherweise wieder ab (Demenz, Alzheimer, andere Krankheiten, natürliche kognitive Degeneration).

Unsere ersten eigenen Schritte

Doch zurück zum Anfang. Während unseres ersten Lebensjahres gedeihen wir als Baby prächtig und wir wachsen heran. Wir werden größer. Und irgendwann entwickeln wir uns über unser Schreien hinaus und probieren die ersten Lautbildungen. Wir lallen und spielen mit unserer Zunge und unserer Artikulationsfähigkeit.

Gleichzeitig sind unsere Muskeln und unser Körper gewachsen und wir müssen nicht mehr nur still in unserem Bettchen herum liegen, sondern wir können uns aus eigener Kraft drehen und wenden. Und schließlich gelingt es uns sogar zu krabbeln und dann auch die ersten Schritte zu gehen.

Indem wir uns selbst aufrichten, bekommen wir eine ganz neue Sicht für diese Welt. Aus der horizontalen Ebene des Liegens heraus haben wir uns aus eigener Kraft aufgerichtet und die vertikale Dimension erobert. Was für ein fantastischer Gewinn: endlich haben wir den Überblick (zumindest über unseren kleinen Lebensbereich als Baby).

Freiheit genießen

Als Kleinkind genießen wir nun diese neue Freiheit. Wir krabbeln auf allen Vieren oder wir stampfen auf unseren eigenen Beinchen durch die Welt. Was für ein großes Abenteuer! Es gibt so viel zu entdecken.

Mama und Papa müssen die ersten Vorsichtsmaßnahmen einleiten: die Steckdosen absichern, die Bodenvase woanders hinstellen, den Kaminofen absperren, alles, was herum liegt, aufräumen. Als Kleinkind wollen wir diese wunderbare neue Welt mit allen Sinnen erfassen und erfahren – von Angst, Scham, Unsicherheit oder Vorsicht keine Spur.

Und unsere Eltern freuen sich über uns. Sie sind stolz auf uns. Sie freuen sich. Sie prahlen vor anderen Eltern mit unseren Entwicklungsschritten, wie tolle Fortschritte wir machen. Sie lieben uns, wie großartig wir sind. Ja, in dieser Phase schätzen unsere Eltern unser Sein und unsere Lust auf Entwicklung sehr.

Grenzen setzen

Doch diese Freude währt nicht lange. – Solange unser Radius klein war, war alles noch im Lot, alles war ok. Mama und Papa hatten noch die volle Kontrolle und Übersicht. Doch das Kind wächst ja weiter. Und je größer es wird, desto weiter wird sein Aktionsradius, desto klarer wird seine Kommunikation inklusive Forderungen und deutlich artikulierten Bedürfnissen und desto kleiner wird seine Abhängigkeit.

Und gerade das immer selbständiger Werden des kleinen Steppke hat eben auch seine Schattenseite. Hier entsteht der erste Schatten. Die Eltern müssen lernen und schmerzhaft erfahren, ihren lieben Schatz loszulassen. Sie müssen ihn gehen lassen, frei geben und die Leine immer lockerer und länger halten. Sie werden immer weniger gebraucht (dabei ist gebraucht werden doch so schön).

In der Artikulation seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse stellt das Kind immer lautere und immer klarer formulierte Forderungen. Es hat Erwartungen an seine Eltern. Und die Eltern haben längst nicht immer Lust, diese zu erfüllen.

Das Kind erlebt nun also Ablehnung, Zurückweisung und Grenzen auf mehreren Ebenen: Wie groß ist der Raum, der ihm gelassen wird? Welchen Aktionsradius genehmigen die Eltern? Welche Erfahrungen sind erlaubt? Was darf das Kind tun/machen? Was wird ihm verboten?

Und welche Wünsche und Bedürfnisse finden offene Ohren? Und welche Spiel- und Erfahrungsimpulse werden abgeschmettert? Was darf sein? Was darf nicht sein? Und das Kind wird sich seiner selbst immer mehr bewusst.

Anfangs dachte das Baby, dass seine Bedürfnisse und die Bedürfnisse von Mama und Papa ein und dieselben sind oder dass sie sich zumindest gut ergänzen und zueinander passen. Doch das heranwachsenden Kleinkind muss nun immer häufiger die Erfahrung machen, dass dies nicht so ist. Immer öfter konkurrieren seine eigenen Bedürfnisse mit den Ansichten und Vorstellungen der Eltern.

Hierdurch lernt und erfährt das Kind, ob und wie weit es sich selbst leben kann/darf. Die kreativen Spielimpulse und Herzensbedürfnisse des Inneren Kindes werden reglementiert, bewertet, beurteilt und für gut oder für unpassend befunden.

Frühkindliche Programmierung

All diese Erfahrungen von Reglementierungen und von in einem definierten Rahmen genehmigter Erlaubnis lernen wir. Diese Lernerfahrungen prägen uns. Wir werden hierdurch konditioniert. Wir bilden eine Persönlichkeit aus, die genau diese Muster a) als Wahrheit abspeichert und b) als Identifikation verinnerlicht. Ich (als Kind) bin diese Wahrheit. Ich (als Kind) habe eine Identifikation mit diesen Regeln und Verhaltensweisen.

Ich (als Kind) kenne ja nichts anderes auf dieser Welt. Dies sind meine ersten Erfahrungen und deshalb ist dies meine Welt. Ich habe noch nichts anderes kennengelernt und folglich habe ich auch keinerlei Vergleichsmöglichkeiten und keine Beurteilungsmöglichkeiten. Ich kann nicht von oben auf die Dinge schauen, weil ich nur diese eine Dimension, nur diese eine Wahrheit, kenne.

Also entwickele ich mich als ein ICH BIN mit genau dieser Wahrheit inklusive aller Programmierungen, Glaubenssätze und Vorstellungen vom Leben. Und was ich als Kind natürlich nicht weiß, weil ich unbewusst bin, das ist, dass all diese Energien Fremdenergien in mir sind. Mit dieser Wahrheit lebt die Wahrheit meiner Eltern und des Kollektivs (der Gesellschaft) in mir. So bin ich programmiert. Und ich denke, so bin ich.

Reproduktion und Wiederholung

Weil ich denke, dass ich so bin, deswegen gestalte ich mein Leben entsprechend. Als Kind weiß ich nicht, dass mein Herz andere Wünsche und Bedürfnisse hat. Ich fühle in mir allein mein konditioniertes Ego, dass in der frühesten Kindheit eben all das gelernt hat, was es gelernt hat. Und ich höre auf diese Muster und befolge die Befehle dieser Programmierung artig – natürlich unbewusst.

Durch dieses immer und immer wieder befolgen der ich-fremden Befehle, Regeln, Normen, Muster und Verhaltensweisen, schleift sich etwas in mir ein, gewinnt dieses Fremde in mir eine Präsenz, eine Beständigkeit und eine Stabilität. Ich trainiere fremde Qualitäten, Fähigkeiten und Talente. Ich befolge fremde Erwartungen. Ich perfektioniere fremde Vorstellungen. Ich werde unbewusst zu einem Meister, zu einem Hochleistungssportler des Fremdbefolgens – alles unbewusst.

Erste Zäsur

Und so gestalte ich mein Leben als Kind, bis ich irgendwann zum Jugendlichen herangereift bin. Die Zeit meiner Pubertät ist ein ersten Aufbegehren, ein erstes in Fragestellen, ein erstes darüber Nachdenken, was ich da eigentlich lebe und was ich da eigentlich tue. Ich weiß zwar nicht genau was ich in Frage stelle, ich selbst und meine Eltern erleben nur, dass ich alles in Frage stelle. Und dies ist gut so!

Die Pubertät ist das erste erwachsen werden. Als Jugendlicher habe ich inzwischen so viel Selbst-bewusstsein, dass ich sehr wohl wahrnehme, dass der Hase in anderen Familien woanders lang läuft. Ich merke, dass es mehr gibt in dieser Welt, als die „heiligen Schriften“ meiner Familie. Und all dies checke ich. Ich prüfe. Ich probiere aus. Ich teste. Ich schaue hierhin und dorthin. Ich gucke, was es gibt und ich fühle, was mir entsprechen könnte. Was mir gefällt das nehme ich. Was mir nicht gefällt, das lasse ich dort, wo es ist.

Oftmals werden dennoch viele elterliche Impulse übernommen. Oder es geschieht das Gegenteil, dass ich als Jugendlicher mich für den Gegenpol entscheide. Ich möchte genau das andere kennenlernen. Dies bin dann aber immer noch nicht ich. Es ist lediglich eine weitere Form von dem, was die Welt bietet, was ich aber auch nicht bin. Es ist nur der Gegenpol auf der anderen Seite der Skala.

Enttäuschung

Und so schwimme ich durchs Leben. Ich probiere, das Glück zu finden mit dem elterlichen Muster oder mit dem genau entgegengesetzten Muster oder auf eine noch ganz andere Art und Weise. Doch unterm Strich erlebe ich, dass ich immer wieder enttäuscht werde. Nichts schenkt mir dauerhafte Freude, stabilen Frieden, wirkliche Zufriedenheit.

Ich probiere aus. Ich versuche. Doch irgendetwas stimmt nicht. Ich finde nicht zu mir. – Kann ich ja auch nicht, denn ich bin nach wie vor auf das Außen ausgerichtet und glaube, dass mich das Außen glücklich machen, befriedigen und erfüllen könnte.

Antworten

Und in dieser Phase kommen wir nun zurück zu unserer Frage: Warum fällt es uns so schwer, andere Menschen so Sein zu lassen wie sie sind? Und auf diese Frage gibt es nun mehrere Antworten. Und das Anerkennen dieser Antworten führt uns in ein zweites erwachsen werden – heute. Wir bekommen jetzt die Chance, nachdem wir Pol und Gegenpol kennengelernt haben, uns irgendwo dazwischen selbst zu finden.

Antwort 1: Als Kind haben wir selbst bitterlich erfahren und lernen müssen, dass wir nicht einfach machen konnten, was wir wollten. Wir mussten uns nach der Decke strecken und tun, was die anderen (unsere Eltern, die Gesellschaft) von uns verlangten. Wir mussten ihre Grenzen, Werte, Normen und Vorstellungen schlucken, akzeptieren und in unser Leben integrieren. Und so wie damals mit uns umgegangen wurde, so gehen wir heute auch mit den uns nahestehenden Menschen um. Wir kennen nichts anderes. Wir selbst setzen anderen Grenzen, nörgeln an ihnen herum, bestimmen den Rahmen und norden sie ein. Dieses Verhalten entspricht unserer Gewohnheit. So geht man nun mal miteinander um.

Antwort 2: Als Kind ist uns abtrainiert worden, uns selbst zu beglücken. Wir durften nicht das tun, was wir tun wollten. Es war uns untersagt, unsere Kreativität frei auszuleben und mit Wachmalstiften Mamas weißes Tischtuch anzumalen. Das tat man einfach nicht. Wir durften die kreativen, lebendigen Impulse unseres Inneren Kindes nicht leben (und dies macht auch Sinn in dieser Welt, denn spätestens wenn wir mit Straßenmalkreide auf der Fahrbahn hocken, währt unsere kreative Freude nur kurz, wenn wir ausgerechnet da weiter kreativ sein wollen).

Entscheidend für unser Lernen war jedoch, dass wir uns nicht selbst Erfüllung schenken konnten und durften. Wir erfuhren Reglementierungen, Begrenzungen und Einschränkungen. Wir wurden damals nicht gelassen – und deshalb können wir heute andere Menschen nicht lassen …!

Und dies ist mehr als nur eine konditionierte Gewohnheit: Wir haben es nie gelernt, uns selbst zu lieben und uns selbst Gutes zu tun (kreativ sein, spielen, die Welt nach unserem Willen entdecken), weil der Raum dafür nicht da war. Und der Raum war nicht da, weil wir als Kind noch abhängig waren. Unsere Eltern hatten die Fürsorgepflicht für uns und bestimmten unseren Raum.

Und weil wir es nie gelernt haben, unsere inneren Impulse zu fühlen und zu leben, deswegen brauchen wir die anderen für unser Glück. Und dann wollen wir sie so für unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurecht biegen, dass sie für uns passen.

Unglücklicherweise sind wir hierdurch auch heute als Erwachsene immer noch „abhängige Kinder“. Wir haben uns noch nicht aus der Abhängigkeit befreien können. Wir brauchen die anderen Menschen für unser Glück.

Antwort 3: Wir halten an unseren Vorstellungen fest. Wir halten an dem fest, was wir als Kind gelernt haben, was wir verinnerlicht haben. Und wir tun alles dafür, die verinnerlichten Muster (auch wenn sie Fremdenergien in uns sind) nicht in Frage zu stellen. Diese Fremdenergien sind bis heute unsere Identität.

Erwachen

Jetzt, heute, kommt nun unser Partner (oder allgemein unser Gegenüber) ins Spiel. Unser Partner ist unser Retter, Engel, Helfer, Lichtarbeiter, Erlöser (auch wenn dies auf den ersten Blick vielleicht nicht so aussieht, weil er sich als „Arsch-Engel“ verkleidet hat). Unser Partner ist für uns da, um uns von unserer Fremdenergie zu befreien. Dies macht er natürlich nicht bewusst, sondern vollkommen unbewusst und intuitiv. Er/sie drückt unsere Knöpfe. Er triggert uns.

Wir selbst halten (bis heute) noch an unserer Identität, die durch die (elterlichen und gesellschaftlichen) Fremdenergien in uns entstanden ist, fest. Das Herzensfeld unseres Partner sieht nun unser wahres Selbst, sieht unser Inneres Kind, erkennt uns mit den Wünschen und Bedürfnissen unseres Herzensfeldes.

Wir selbst sehen all dies nicht! Und es ist sogar noch schlimmer, noch heftiger: Wir verteufeln all das, was auf Herzenseben gut für uns wäre und wonach sich unser Herz sehnt. Wir verteufeln es deshalb, weil es in unserer Kindheit (von unseren Eltern und vom Kollektiv, der Gesellschaft) verteufelt wurde. Wir verteufeln es aus Gewohnheit, aus unserer Prägung heraus, aufgrund unserer Konditionierung.

Dieses Verteufeln geschieht vollkommen unbewusst. Wir können es einzig und allein an dem erkennen, was wir bei unserem Gegenüber heute verteufeln!

Ja! Und hier finden wir die Lösung. Wir können uns selbst in unserem Herzensfeld erkennen, indem wir uns im anderen erkennen. Wie funktioniert dies nun im Alltag ganz praktisch und handfest?

Wenn ich zum Beispiel Ordnung liebe und mit einem Menschen zusammenlebe, der etwas chaotisch ist, dann verhält es sich höchstwahrscheinlich so, dass ich in meiner Kindheit zu Ordnung erzogen worden bin. Es kann sein, dass dies heute eine Fremdenergie ist mir ist. Es ist der Ordnungssinn meiner Eltern in mir. Ob dies der Fall ist, kann ich leicht an meinem Verhalten meinem Partner gegenüber erkennen.

Kann ich sein Chaos leicht lassen, dann lebe ich den Wunsch nach Ordnung aus meinem Herzensfeld heraus. Es ist authentisch und echt. Ich rege mich nicht über ihn auf, sondern ich lasse ihn so, wie er ist. Ich sorge in meinem Umfeld für so viel Ordnung, wie ich es angenehm finde.

Kann ich sein Chaos nicht lassen, rege ich mich über seine Unordnung auf, dann ist das Prinzip der Ordnung eine Fremdenergie in mir. Dann würde ich selbst aus meinem Herzensfeld heraus eigentlich gerne etwas anderes leben. Dann habe ich Ordnung halten nur gelernt und befolge diese heilige Regel bis heute, um meinen Eltern und ihren Vorstellungen und Glaubenssätzen treu zu sein und ergebenst zu dienen. Ich will das, was meine Eltern hoch gehalten und auf die Fahnen geschrieben haben, nicht verletzen, nicht mit Füßen treten und nicht in Frage stellen.

Dafür stelle ich aber leider mich selbst in Frage. Denn ich lebe nach wie vor die Moralvorstellungen meiner Eltern und nicht meine eigenen. Indem ich meinen Eltern die Treue halte, werde ich mir selbst heute, hier und jetzt immer wieder untreu. Ich verrate mich selbst. Ich verrate meine eigene Moral. Ich verrate meine eigene Selbstliebe. Ich verrate mich.

Und zu allem Überfluss müssen die anderen dies ausbaden. Denn natürlich bin ich tief in mir schwer unglücklich, dass ich mich verrate. Und all der große Ärger im Außen, die Streits und Probleme, sind lediglich ein Spiegel, ein Abbild meines eigenen Ärgers in mir. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich mich selbst (mit den Bedürfnissen meines Herzensfeldes) ständig und immer wieder verrate.

Hier öffnet sich für mich nun der Weg meiner Erleuchtung – der Weg zu mir selbst. Das Wunderbare und Schöne an diesem Weg zu mir selbst ist, dass ich mich in Liebe mir selbst zuwenden darf. Das sehr Schmerzhafte an diesem Weg ist, dass es so aussieht, als würde ich mich von den anderen abwenden. Doch dies ist nicht so!

Ich wende mich nicht von den anderen ab. Ich wende mich lediglich von den Ego-Vorstellungen der anderen ab. Zugleich wende ich mich meiner Selbstliebe und meinem Herzensfeld zu. Und weil mein eigenes Herzensfeld und die Herzensfelder aller anderen ein und dasselbe Herzensfeld sind, wende ich mich, indem ich mich von dem Ego der anderen abwende, meinem sowie auch dem Herzensfeld meines Gegenübers zu.

Das Ego kapiert all dies nicht und fühlt einfach nur Schmerzen – bis es es doch kapiert und sich selbst transformiert. Was wir in diesem Zeitalter der Transformation hinter uns zurück lassen, das sind unsere Identifikationen mit den Vorstellungen, Illusionen und Erwartungen unserer aller Egos. Und dann begegnen wir uns in Liebe in unserem Herzensfeld.

Zusammenfassung

Die Abhängigkeit, wie ich sie als Kind erlebte, liegt hinter mir. Sie ist Vergangenheit. Heute bin ich ein autonomes Wesen in Interaktion. Ich bin frei und selbstbestimmt.

Bei allem, was ich beim anderen verändern will, kann ich erkennen, dass ich genau diesen Punkt gerne bei mir selbst verändern würde, es mir aber zugleich strengstens verbiete und es auch gar nicht will. Ich spüre in mir: Ich will es einerseits und zugleich will ich es auf gar keinen Fall! Diese kraftvolle Verneinung spiegelt die machtvolle Stärke unserer Konditionierung wider und dass wir dieser Fremdenergie bis heute auf Stein und Bein die Treue schwören.

Wir selbst wollen niemals so sein, wie der andere schon ist! Dies glauben wir zumindest. Doch die Wahrheit unseres Herzens ist eine andere. Aus welchem Grund sollten wir sonst genau diesen Menschen in unser Leben gezogen haben? Unser Herz hat ihn in unser Leben zitiert, weil unser Inneres Kind endlich so sein will und so sein dürfen möchte, wie der andere schon ist! Dies mag für viele Ohren unglaublich klingen und doch ist es so.

Jeder von uns lebt ein fremdbestimmtes Leben nach den Konditionierung, Prägungen, Glaubenssätzen, Vorstellungen und Erwartungen unserer Kindheit. Und warum ist dies so? Was soll das? – Ja, auch dies hat seinen Grund …

Denn diese Fremdenergie ist der dunkle, schwarze Hintergrund zu dem, was wir eigentlich sind. Jeder Künstler weiß dies: Ich muss zuerst den Hintergrund malen und erst danach male ich den Vordergrund. Ich male zuerst die grüne Wiese und den blauen Sommerhimmel. So ist mein ganzes Bild am Anfang nur grün und blau. Und danach, erst als zweites, male ich die Blumen und Schmetterlinge, die Vögel und den Baum, das gemütliche Häuschen und die spielenden Kinder, den Hund und die Katze und all die vielen anderen feinen Details. Die Regel ist: Zuerst den Hintergrund und dann den Vordergrund.

Eine Kerze in der prallen Mittagssonne am Südseestrand macht nicht viel her. Man kann ihr schönes Licht kaum erkennen. Die gleiche Kerze in einer bunten Laterne, die die Kinder durch die dunkle Nacht tragen, wirkt wundervoll. Das Licht braucht die Dunkelheit, um erlebt und erfahren werden zu können. Das Licht braucht die Dunkelheit, um seine Wirkung voll entfalten und darbieten zu können.

Die Konditionierungen und Prägungen unserer Kindheit sind der dunkle Hintergrund unseres lichtvollen Daseins heute. Es gibt nichts zu verteufeln oder anzuprangern oder zu überwinden. Alles ist gut so, wie es ist. Die Konditionierungen und Prägungen unserer Kindheit sind als Hintergrund existenziell wichtig und notwendig, damit wir heute der/diejenige sein können, der/die wir tatsächlich sind.

In dieser polaren Welt, können wir uns als der/die, der/die wir sind, nur erfahren, wenn wir zuvor erfahren haben, wer wir nicht sind. Und in Bezug auf unsere Beziehungen und unser Gegenüber bedeutet dies: Der, der ich bin, bin ich nicht. Ich bin der, der ich nicht bin und den ich bis heute verurteilt habe.

Oder anders ausgedrückt: Der, der ich glaubte zu sein, bin ich nicht. Wer ich wahrhaftig (auf der Ebene meines Herzensfeldes) bin, erkenne ich in meinem Gegenüber. Und meine Aufgabe ist nun, dies jetzt anzunehmen und diese Wahrheit zu umarmen. Und dies mache ich jetzt …

Ja, hierfür gebe ich jetzt meine Erlaubnis. Ich erlaube, mich in der Wahrheit meines Herzensfeldes jetzt zu empfangen …

Danke.