Wenn wir unsere Makel persönlich nehmen
Wenn wir unsere Makel persönlich nehmen
Wir alle kennen das: Da haben wir so einen blöden Pickel im Gesicht und die anderen sprechen uns auch noch darauf an.
Der Pickel geht zum Glück wieder weg. Doch manche Menschen haben noch ganz andere Probleme: schiefe Zähne, ausgefallene Haare, einen blöden Leberfleck, einen fauligen oder verfärbten Zahn, eine komische Körperhaltung, eine krumme Nase, verschieden lange Beine, hängende Schultern, hängende Mundwinkel, tiefliegende oder hervortretende Augen, kleine oder große oder abstehende Ohren und so weiter.
Was ist es, dass wir so allergisch darauf reagieren, wenn man uns auf ?Wahrheiten? anspricht, die wir nicht hören mögen und nicht wahrhaben wollen? Es ist ja richtig: die Zähne sind schief, die Ohren sind abstehend, die Nase ist krumm, der Leberfleck ist da mitten im Gesicht. Die anderen sagen also lediglich etwas, was wahr ist und was wir auch schon wissen. Doch weshalb möchten wir das nicht hören? Weshalb möchten wir die Wahrheit nicht hören? Das ist doch komisch.
?Ja, weiß ich selbst?, würden wir dann vielleicht genervt antworten.
Doch von was sind wir genervt?
Und schon unseren Kindern ergeht es so. Wenn sie ein ?besonderes Merkmal? haben und ständig von den anderen darauf angesprochen werden, dann finden sie dies nicht so besonders toll. Sie wollen eben lieber nicht darauf angesprochen werden.
Hier begegnen wir einem sehr paradoxen Phänomen: Einerseits wollen wir unbedingt die Aufmerksamkeit der anderen haben. Und als Eltern wird uns eingeredet, wie wichtig es sei, den Kindern Aufmerksamkeit zu schenken. Und wenn wir dann Aufmerksamkeit für etwas bekommen, dann ist es auch wieder nicht richtig.
Wir wollen also so sein wie alle anderen und trotzdem die Aufmerksamkeit der anderen bekommen.
Wir wollen nicht anders als die anderen sein.
Wir wollen nicht besonders sein.
Wir wollen nicht weiter auffallen.
Wir wollen nicht aus der Reihe tanzen.
Wir wollen angepasst sein.
Wir wollen unbemerkt bleiben.
Wir wollen unbemerkt bleiben und zugleich Aufmerksamkeit bekommen. Und manche Menschen schließen sich dann einer Gruppe/Gruppierung an. Und wenn die Gruppe/Gruppierung Aufmerksamkeit erregt, dann bekommen auch wir Aufmerksamkeit, müssen dies aber nicht so persönlich nehmen.
Dies bedeutet, wir wollen gerne die Aufmerksamkeit der anderen haben, ohne sie persönlich nehmen zu müssen.
Und dies ist tatsächlich so.
Auch wenn dies paradox klingt.
Wir möchten gerne die Aufmerksamkeit der anderen haben, ohne dies persönlich nehmen zu müssen.
Wir machen uns in der Schule zum Klassenkasper.
Doch vorne an der Tafel stehen, das mögen wir nicht.
Vorne an der Tafel, das nehmen wir persönlich.
Unser Klassenkasperveralten nehmen wir nicht persönlich.
Dies mag auf den ersten Blick komisch erscheinen und doch ist es so.
Als Klassenkasper haben wir uns selbst eine Rolle ausgesucht, in die wir hinein geschlüpft sind und die wir irgendwie ausfüllen. Doch wir identifizieren uns nicht persönlich mit dieser Rolle. In dieser Rolle sind wir eigentlich - ehrlich gesagt - weg (dissoziiert) und für niemanden zu erreichen. Wir nehmen nichts persönlich.
So ähnlich geht es Schauspielern und Unterhaltungskünstlern. Schauspieler schlüpfen in eine Rolle rein, spielen ihr Theaterstück und gehen wieder aus der Rolle raus. Und solange sie in dieser Rolle drin sind, sind sie ein anderer Mensch. Sie sind nicht sie selbst, sondern der Charakter, den sie gerade spielen. Sie haben ihre eigene Persönlichkeit in der Garderobe zwischengeparkt. Und wenn dann jemand sagt: ?Was hast Du denn für eine komische Frisur??, dann finden sie einen spielerischen Umgang mit dieser Kommunikation.
Es gibt Schauspieler, die treten auf großen Bühnen auf und trauen sich nicht, bei ihrem eigenen runden Geburtstag eine kleine Ansprache zu halten. Auf der Bühne sind sie in einer Rolle. In ihrem eigenen Leben sind sie sie selbst und nehmen alles persönlich.
Man kann dies allerdings nicht einfach so verallgemeinern. Es gibt Schauspieler und Unterhaltungskünstler, die nehmen ihre Rollen, in/mit denen sie auftreten, nicht so persönlich und andere Schauspieler/Unterhaltungskünstler identifizieren sich sehr mit ihrer jeweiligen Rolle und nehmen alles sehr persönlich. Und sie nehmen auch den Applaus und den Beifall ebenso wie Kritik und alle Rückmeldungen sehr persönlich. Ob wir etwas persönlich nehmen, hängt also vor allem damit zusammen, wie sehr wir uns mit unserer Rolle identifizieren.
Und hierfür brauchen wir nicht einmal Schauspieler oder Unterhaltungskünstler zu sein. Auch in unserem ganz normalen Alltag leben wir uns in tausend verschiedenen Rollen.
Wir sind Frau oder Mann.
Wir sind Partnerin/Partner.
Wir sind Mutter oder Vater.
Wir haben einen Beruf.
Wir haben ein Hobby.
Wir sind Fan von irgendetwas oder irgendwem.
Wir identifizieren uns mit unserem Körper.
Wir kleiden unseren Körper.
Wir sind Nachbar.
Wir sind Sprecher von oder für etwas.
Wir setzen uns für Dinge ein.
Und ständig sind wir in irgendwelchen Rollen unterwegs.
Und hierbei definieren wir diese Rollen einerseits selbst und andererseits übernehmen wir die Definitionen der anderen, der Gesellschaft, des Kollektiv. Und natürlich spielt es auch eine große Rolle, in welcher Weise unsere Eltern bestimmte Rollen definiert haben.
Wenn wir uns als Hexe verkleiden, dann finden wir einen dicken Pickel auf der Nase richtig gut. Das passt zum Outfit einer Hexe. Doch wenn wir als schöne Prinzessin oder elegante Partnerin auftreten möchten, dann würde uns der gleiche Pickel stören.
Ein Makel ist also nicht automatisch und nicht in jeder Situation ein Makel, sondern immer nur in Bezug auf die Rolle, die wir gerade spielen bzw. mit der wir uns gerade identifizieren.
Und wenn wir dies anerkennen, dann können wir auch feststellen, dass jeder Makel ein Makel sein kann und zugleich kann jeder Makel auch ein wünschenswertes Merkmal sein - fast wie eine Auszeichnung. Schräge Zähne oder vergammelte Zähne würden in der Verkleidung eines mittelalterlichen Landstreichers das Kostüm und die Wirkung nur gewinnbringend unterstreichen.
Die Frage in Bezug auf unsere Lebenszufriedenheit wäre also: Sollten wir unsere Makel retuschieren/wegmachen und unseren Vorstellungen von ?schön? anpassen? Oder sollten wir unsere Makel ernst nehmen und unsere Vorstellungen von ?wer wir sind? sausen lassen und einfach jemand anderes sein, als wir bisher glaubten sein zu müssen?
Ein Sumoringer würde auf dem Laufsteg und beim Foto-Shooting für den nächste Sommer-Bade-Kollektion vielleicht nicht so viel her machen. Doch ein Mode-Model taugt einfach nichts für Sumoringen. Jeder ist halt in seinem Bereich gut und richtig. Und die Qualitäten, die in dem einen Bereich (in der einen Rolle) gefragt sind, wären in der anderen Rolle ein Makel - und einfach fehl am Platze.
Wie können wir hiermit nun einen guten, sinnvollen, neuen Umgang finden?
Die Frage ist ja: Wenn uns jemand einen (angeblichen) Makel aufs Brot schmiert, versuchen wir dann (weiterhin) den Makel weg zu machen, zu retuschieren oder zu leugnen? Oder nehmen wir einfach eine neue Rolle ein, zu der dieser Makel perfekt passt und wo dieser Makel gar kein Makel ist, sondern eine Auszeichnung, ein Kompliment, eine typische, positive Charaktereigenschaft?
Wie dies funktionieren könnte?
Ganz einfach: Wir machen uns bewusst, dass wir als Seele in diesen Körper inkarniert sind und hier ganz bestimmte Erfahrungen machen wollten. Hierzu wurden wir mit diesem Körper sowie mit ganz spezifischen, typischen, charakteristischen, sinnvollen, nützlichen und vorteilhaften Gaben, Fähigkeiten, Talenten, Qualitäten, Kompetenzen und Merkmalen ausgestattet. Wir sind absolut perfekt, so wie wir sind. Und wir sind perfekt geeignet für genau unsere Aufgabe, für genau unseren Auftrag, für genau unsere Berufung.
Unsere Eltern kannten jedoch unsere Berufung nicht. Und sie hatten auch nicht die Fähigkeit, uns in unserem Sosein einfach zu sehen, zu erkennen, anzuerkennen, zu lassen und sogar zu fördern und hilfreich zu unterstützen. Und weil unsere Eltern uns einfach nicht gesehen haben (und bis heute nicht sehen), deshalb haben sie uns die Schablone der Gesellschaft übergestülpt und uns entsprechend dieser Schablone erzogen. Wir verloren unsere Einzigartigkeit und wurden zu einem Menschen unter vielen. Wir wurden ein Nullachtfünfzehn-Mensch wie alle anderen auch.
Und mit dieser Nullachtfünfzehn-Rolle identifizieren wir uns bis heute. Und alle Makel, die wir als Makel empfinden, sind lediglich ein Makel in Bezug auf diese Nullachtfünfzehn-Rolle - die wir eigentlich gar nicht sind. Spricht uns jemand auf unseren Makel an und fühlen wir uns hierdurch getriggert, so ist dies also lediglich ein wertvoller Hinweis dafür, dass wir uns selbst und unsere eigentliche Rolle und unsere eigentliche Funktion und unsere eigentliche Berufung noch gar nicht gefunden haben. Wir tappen noch im Dunkeln. Wir laufen den falschen Vorstellungen hinterher. Wir erfüllen die verkehrten Erwartungen und wir folgen/befolgen die falschen Werte. Kein Wunder also, dass wir uns unausgefüllt, gelangweilt, arm und sogar matt und krank fühlen. Wir leiden Schmerzen und Leid, weil wir total neben uns stehen und ein Schattendasein unserer selbst fristen.
Wir können also unsere Makel nutzen als Hinweise für ein anderes Ich, für ein anderes Bild von uns selbst. Und wir können dies erkennen und anerkennen. Zudem können wir erlauben, dass das Leben uns neu führen, lenken und leiten darf. Wir können innerlich die Erlaubnis erteilen: ?Liebes Leben, ich erkenne, dass ich mich möglicherweise geirrt habe. Mein Bild von mir selbst ist möglicherweise eine Illusion, eine Täuschung, ein Irrtum. Ich nehme die Rückmeldungen der anderen zum Anlass, Kurskorrekturen zu erlauben. Bereitwillig lasse ich meine Vorstellungen und Erwartungen von meinem Leben, wie ich es bisher für richtig hielt, und von meiner ?Ich-Identifikation? los und heiße neue Fügungen, Zufälle, Synchronizitäten und Begebenheiten mit offenen Armen willkommen. Ich bin offen und neugierig, zu erfahren wer ich wirklich bin im Sinne der universalen Liebe und welche neuen Erfahrungen das Leben für mich bereit hält. Ich habe Lust, mich überraschen zu lassen, welche Ereignisse, Situationen und Gefühle der Himmel für mich bereit hält. Ich erlaube das Neue. Das Neue darf sich nun in meinem Leben einstellen. Und ich lasse mich einfach überraschen.?
Unsere Aufgabe ist jetzt, das, was ist, im jeweiligen Jetzt zu bezeugen, zu würdigen, dankbar anzunehmen und zu fühlen. Dies ist alles.
Wir brauchen nichts zu planen, nichts zu regeln und nichts zu tun. Wir brauchen nichts zu organisieren und uns nicht zu kümmern. Wir brauchen nur das Jetzt bewusst wahrzunehmen und bereitwillig zu fühlen. Alles Weitere wird sich jetzt einfach aus sich selbst heraus entwickeln.
Und hierüber freue ich mich bereits jetzt . . .